Lutherische Identität als einigende Kraft

Ein Interview mit dem indischen Pastor Logan Samuel Ratnaraj über die Eindrücke seines Deutschlandbesuchs

Logan Samuel Ratnaraj ist Pastor im südindischen Chennai. Er war im Frühsommer vier Wochen lang im Rahmen des Austauschprogramms "Kirche gibt’s auch anderswo" für kirchliche Mitarbeitende zu Gast in Deutschland. Damit stattete er der Bildungskoordinatorin des Kirchenkreises Hildesheim, Michaela Grön, einen Gegenbesuch ab, die ihn Anfang des Jahres in Chennai bei seiner Arbeit begleitet hatte.

Im Juni war der indische Pastor auch in Hermannsburg zu Gast, gestaltete Unterrichtseinheiten an Schulen, wirkte mit an einem Abend der weltweiten Kirche des ELM und besichtigte den Friedensort2GO. Im Interview zieht er eine Bilanz seines Aufenthaltes in Deutschland.

 

Welche Erwartungen hatten Sie an Ihre Deutschland-Reise?

Ich habe mir erhofft, Einblicke in die Projekte der Kirche in Deutschland zu erhalten, die sich mit sozialer Wohlfahrt, Gemeindeentwicklung und kultureller Integration beschäftigen. Dabei wollte ich innovative Ansätze und bewährte Praktiken kennenlernen, die ich in die lutherischen Kirchen Indiens einbringen könnte.

Außerdem freute ich mich darauf, die Gemeinschaft hier kennen zu lernen. Insgesamt habe ich mir von der Reise versprochen, meinen Blickwinkel zu erweitern, das Verständnis für die deutsche Kultur zu vertiefen und Inspiration zu bekommen um nach meiner Rückkehr einen positiven Beitrag zur Gesellschaft in Indien leisten zu können.

 

Was waren Ihre ersten Eindrücke von Deutschland in Hildesheim und Hermannsburg?

Nachdem ich die verschiedenen diakonischen Werke der Kirche gesehen hatte, war ich voller Ehrfurcht und Bewunderung. Die Hingabe der deutschen Kirche für die Diakonie und die Entwicklung des Gemeinwesens, insbesondere für Flüchtlinge, waren wirklich beeindruckend. Die Gastfreundschaft, die mir in der Hildesheimer Kirche und von den ELM-Mitarbeitenden entgegengebracht wurde, hat diesen Eindruck noch verstärkt. Der herzliche Empfang und das Gefühl der Zugehörigkeit gaben mir das Gefühl, zu Hause zu sein. Abgesehen von der diakonischen Arbeit sind die Disziplin im Straßenverkehr, Pünktlichkeit und das Einhalten von Versprechen einige Eigenschaften, die ich an den Deutschen sehr schätze und um die ich sie beneide.

 

Welche Programmpunkte haben Sie am meisten beeindruckt und warum?

Der Friedensort2GO im ELM, ein Projekt, das sich auf den eigenen Frieden und den der Gemeinschaft konzentriert, ist sehr sinnvoll, besonders inmitten von Chaos und Krieg weltweit. Der Spaziergang auf dem F2GO mit seinen verschiedenen Stationen inspiriert und ermutigt Einzelne und Gruppen, an die göttliche Vorsehung und das Engagement für den Frieden zu denken.

Aber auch die Initiative zur Förderung des fairen Handels durch das Projekt „Lernen eine Welt zu sein“ ist lobenswert. Diese Programme bleiben mir in Erinnerung, weil sie Werte und Praktiken hervorheben, die in indischen Kirchen nicht üblich sind. Sie inspirieren mich, Frieden, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit in meinem Heimatland zu fördern.

 

Wie sehen Sie die lutherische Kirche in Deutschland?

Deutschland nimmt aufgrund der historischen Verbindung zu deutschen Missionaren, die das Luthertum in Indien verbreiteten, einen wichtigen Platz in den Herzen der indischen Lutheraner ein. Die Verbindung zwischen den Missionspartnern und den indischen lutherischen Kirchen ist tief verwurzelt und gleicht einer Nabelschnur.

Die vergleichsweise geringe Zahl der Gottesdienstbesucher*innen in deutschen Kirchen war jedoch überraschend und schockierend für mich. Die deutschen Kirchen mögen zwar wirtschaftlich stark sein, aber es stellt sich die Frage nach ihrer geistlichen Stärke. In Indien wird die Kirche oft als eine eng verbundene Familie betrachtet, deren Mitglieder ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit und des Engagements zeigen. Diese Beobachtungen verdeutlichen die Unterschiede in der religiösen Landschaft der beiden Länder.

 

In welcher Hinsicht kann die Kirche in Deutschland von der indischen Partnerkirche lernen und umgekehrt?

Die Kirche in Deutschland kann in mehrfacher Hinsicht von der indischen Partnerkirche lernen und umgekehrt. Erstens kann sie etwas über das tiefe Gefühl der Zugehörigkeit und des Engagements lernen, das indische Kirchenmitglieder an den Tag legen. Zweitens kann die indische Partnerkirche Einblicke in wirksame Programme für Gemeindearbeit und Diakonie geben. Darüber hinaus kann die Betonung der spirituellen Lebendigkeit und des herzlichen Gottesdienstes durch die indische Kirche deutsche Kirchen dazu inspirieren, ihre spirituelle Praxis zu vertiefen.

Umgekehrt kann die indische Partnerkirche von den starken wirtschaftlichen Ressourcen und der organisatorischen Effizienz Deutschlands lernen. Die Kunst des Finanz- und Ressourcenmanagements der deutschen Kirchen ist bemerkenswert und muss von den indischen Kirchen aufgenommen werden.
 

In welchen Situationen haben Sie die Einheit der weltweiten Kirche gespürt - oder auch nicht?

Das Eintreten der Kirchen in Deutschland für die Menschen- und Religionsrechte der indischen Christen, die einer Minderheit angehören, ist wirklich inspirierend. Es zeigt die gemeinsame Verantwortung innerhalb der weltweiten christlichen Gemeinschaft, für die Rechte der Unterdrückten und Ausgegrenzten einzutreten. Diese Erfahrung stärkt die Überzeugung, dass wir Teil der einen heiligen Kirche sind, in der wir aufgerufen sind, uns gegenseitig zu unterstützen und zu fördern. Die lutherische Identität dient außerdem als einigende Kraft, die eine Brücke zwischen der deutschen und der indischen lutherischen Kirche schlägt.
 

Was nehmen Sie von dieser Reise mit zurück nach Indien?

Diese Reise nach Deutschland hat bei mir einen Schatz an Erinnerungen und einen Sturm der Emotionen hinterlassen, die ich mit nach Indien nehmen werde. Die Gastfreundschaft, die ich von den ELM-Mitarbeitern erfahren habe, besonders von Ute, Verena, Tobias und Annika* in Hannover, hat mein Herz tief berührt. Ihre Herzlichkeit und aufrichtige Fürsorge gaben mir das Gefühl, ein Teil ihrer Familie zu sein. Der freundliche Empfang durch die ELM-Mitarbeitenden in Hermannsburg und die von Ingrid* organisierten Besuche an den deutschen Schulen werden mir für immer in Erinnerung bleiben. Ich bin überwältigt von der Freundlichkeit und Gastfreundschaft der Familie von Michaela Grön, die mich wie ihre eigene Familie aufnahm und mir das Gefühl gab, zu Hause zu sein.

Wenn ich nach Indien zurückkehre, trage ich ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit und Inspiration in mir. Die Erfahrungen und das Wissen, das ich auf dieser Reise gewonnen habe, werden meine Leidenschaft beflügeln, das in Deutschland Gelernte umzusetzen. Ich bin voller Hoffnung und Entschlossenheit, dazu beizutragen, meine Organisation, meine Kirche und meine Gemeinschaft zu verbessern, um für die Rechte der Ausgegrenzten einzutreten, so wie ich es in Deutschland erlebt habe.

 

*Ute Penzel, Verena Berndt, Tobias Schäfer-Sell, Annika Drieschner, Ingrid Lüdemann

Splashscreen