„Indien war ein großes Geschenk“

Ein Erfahrungsbericht zum Programm „Kirche gibt‘s auch anderswo“

„Indien war für mich ein großes Geschenk, sehr beeindruckend und aufregend und fremd“. Schon in ihrer ersten E-Mail auf die Anfrage des ELM, ob sie von ihrem Aufenthalt in der Millionenmetropole Chennai erzählen möchte, versprüht Michaela Grön eine tiefe Dankbarkeit und Bewegtheit. Anfang Februar ist die Bildungskoordinatorin des Kirchenkreises Hildesheim und Gemeindereferentin der Hildesheimer St. Andreaskirche von ihrem Aufenthalt im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu zurückgekehrt. Vier Wochen lang hat sie den evangelischen Pastor und Hochschullehrer S. Samuel Logan Ratnaraj bei seiner Arbeit begleitet, hat mit ELM-Referentin Ute Penzel Projekte der Partnerkirchen des Missionswerkes besucht und zuletzt auch ganz auf eigene Faust kleine Erkundungstouren gemacht. „Kirche gibt‘s auch anderswo“ heißt das Programm für Mitarbeitende der ev.-luth. Kirche. Es wird von der Landeskirche Hannovers getragen und vom Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen organisiert.

An einem trüben, kalten Februartag sitzt Michaela Grön wieder an ihrem Schreibtisch im gelben Gemeindehaus direkt neben der Andreaskirche, serviert indische Kekse und Ingwertee und blickt zurück: „Als Niels von Türk das Programm hier im Ausschuss für Mission, Ökumene und Partnerschaft des Kirchenkreises vorgestellt hat, wusste ich sofort, dass ich das machen will“, erinnert sich die Kulturwissenschaftlerin, die im Kirchenkreis unter anderem ein Nachhaltigkeitsprojekt leitet. Sie interessiere sich dafür, „wie unser Wirtschaften hier zusammenhängt mit Gerechtigkeit und Frieden, aber auch Umweltproblemen woanders auf der Welt“, sei bisher aber noch nicht im Globalen Süden gewesen.  Gemeinsam mit dem Hildesheimer Superintendent Mirko Peisert, der mit „Kirche gibt‘s auch anderswo“ derzeit in Südafrika ist, absolvierte sie das Vorbereitungsseminar im Büro für internationale kirchliche Zusammenarbeit des ELM in Hannover. Sich die eigenen Rollen und Perspektiven als Vertreter*in einer Wohlstandsgesellschaft bewusst zu machen und auch den Hang, alle Eindrücke schnell „in Schubladen“ stecken zu wollen, stand dort im Mittelpunkt.

"Meine Sinne waren geflashed"

Mit dem festen Vorsatz, alles möglichst unvoreingenommen auf sich wirken zu lassen, landete die Hildesheimerin nach rund 24-stündiger Reise in Chennai. An die ersten Eindrücke von der Stadt kann sie sich noch lebhaft erinnern: „Meine Sinne waren geflashed. Es war laut und bunt und wuselig. Es gab verschiedenste Gerüche; Menschen und Tiere tummelten sich auf den Straßen, es wurde viel gehupt und die Verkehrsregeln verstand ich überhaupt nicht.“ Umso mehr schätzte sie von Beginn an die Begleitung ihres Mentors Logan und dessen Frau Beryl. „Er war sehr fürsorglich und immer offen für  meine Fragen. Besonders auf langen Autofahrten zu seiner Gemeinde oder zu Veranstaltungen kamen wir gut ins Gespräch“, sagt Michaela Grön. Logan sorgte auch dafür, dass sich die 49-Jährige zwischen Terminen, Begegnungen und Sightseeing in ihre Unterkunft in einem Studentenwohnheim zurückziehen und erholen konnte. „Und dass ich nicht verhungere – das indische Essen war fantastisch“, ergänzt sie.

Die Besucherin aus Deutschland war nicht nur passive Zuschauerin des Gemeindelebens, sondern stand schnell im Mittelpunkt. „In zwei Kirchengemeinden gab Logan mir die Möglichkeit, mich vorne am Mikrofon vorzustellen und mit der Gemeinde zu beten und zu singen. Dann brauchte ich nach dem Gottesdienst eigentlich nur dazustehen, und die Leute kamen auf mich zu um Selfies zu machen und mit mir ins Gespräch zu kommen.“ Über Positives wie Negatives. „Eine Frau erzählte von plötzlicher Arbeitslosigkeit in ihrer Familie und dass sie in einer großen Krise seien. Sie bat mich darum, einen Segen zu sprechen. Als Nicht-Theologin und auf Englisch spontan die richtigen Worte zu finden, war nicht einfach.“ Manchmal habe es auch Momente gegeben, wo klar war, dass jedes tröstende Wort versagt, erinnert sich Michaela Grön an die Begegnung mit einer Mutter, deren kleines Kind gestorben war.

Kirchengemeinde als "Safe Space"

Über die Offenheit der Menschen staunt sie immer noch: „Dass ich als Fremde gleich bei der ersten Begegnung angenommen werde, fand ich bemerkenswert und auch anrührend“, sagt sie. Die Kirchengemeinde sei für die Gläubigen wohl so eine Art „Safe Space“ als Minderheit in einer hinduistisch dominierten Umgebung. Zu den evangelischen Gemeinden gehörten fast ausschließlich Dalits, also Angehörige der „untersten Schicht“ der hinduistischen Gesellschaft, bzw. Adivasi, also die Nachkommen der Ureinwohner Indiens. Auch wenn das Kastenwesen offiziell abgeschafft ist, sei die Aufteilung in rituell „reine“ und „unreine“ Menschen immer noch präsent, wie auch Diskriminierung und Gewalterfahrung. So habe die christliche Zusage, ein wertvoller und von Gott geliebter Mensch zu sein, eine besondere und auch politische Bedeutung, meint Michaela Grön. Zugleich verlören Christen durch die Kirchenmitgliedschaft - genauso wie auch Muslime - den Anspruch auf Sozialleistungen des Staates, die eigentlich die Gleichberechtigung von Dalits fördern sollen.

Bei allen Problemen und Sorgen, von denen die Menschen in der Gemeinde erzählten, hätten diese oft ein sehr großes Gottvertrauen gleich mit angefügt, erinnert sich die Besucherin aus Hildesheim. Das habe immer dazu gehört: „Ich vertrauen darauf, dass mein Gott einen Weg für mich hat...“

All die Begegnungen und Erlebnisse, darunter auch eine Bischofseinführung und eine Hochzeit mit 2000 Gästen, wird die Mitarbeiterin der Andreasgemeinde nun in den kommenden Wochen immer mal wieder Revue passieren lassen und reflektieren. Vieles habe sie beobachtet, worüber sie immer noch nachdenke: Dass es in Indien für Frauen eher unüblich und nicht selten gefährlich ist, allein unterwegs zu sein, zum Beispiel. Dass viel Müll offen herumliegt. Dass „Fair Trade“ gerade dort, wo das Konzept die Lage der Menschen verbessern will, vielen kein Begriff ist. Es dürfte jedenfalls noch einigen Gesprächsstoff geben, wenn Samuel Logan Ratnaraj im Mai zum „Gegenbesuch“ nach Hildesheim kommt.  sz