Kulturelle Aneignung - Pro und Contra

Wann wird kultureller Austausch zu kultureller Aneignung?

Wann eignet man sich eine fremde Kultur an? Ist kulturelle Aneignung nur negativ? Oder gibt es auch so etwas wie einen positiven kulturellen Austausch? Bei der wehmütigen Betrachtung seines geschenkten Zulu-Kuhfell-Schilds entwickelt Dr. Joe Lüdemann, ELM-Referent für das südliche Afrika und für globale kulturelle Vielfalt, interessante Ansätze zur Orientierung.

Wenn ich das aus Kuhfell gefertigte Schild und den dazugehörigen Speer in mein Büro beim Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen (ELM) stelle, werde ich schon etwas wehmütig. Das waren noch Zeiten, als ich in der vollbesetzten St. Michael’s Lutheran Church (ELCSA) in der Hafenstadt Durban mit 300 Gemeindegliedern mit vollem Körpereinsatz den „Heritage Day Service“ feierte. Den Feiertag führte die erste demokratische Regierung Südafrikas nach dem Ende der Apartheid 1994 ein, um die „social cohesion“ – den gesellschaftlichen Zusammenhalt – zu stärken. Das soll geschehen, indem an diesem Tag alle Menschen, die in Südafrika leben, sich ihrer kulturellen Wurzeln freuen und so Südafrikaner*innen sich in aller kultureller Vielfalt feiern. Das tun sie mit traditioneller oder traditionell inspirierter Kleidung, mit dem Anbieten traditioneller Gerichte, mit dem Singen traditioneller Gesänge und vielem mehr.

In dem kulturell sehr diversen Südafrika gibt das immer eine herrlich bunte und lebendige Mischung. Im Gottesdienst in St. Michael’s an diesem Tag bedeutete das immer auch, dass vorne im Altarraum viel getanzt und flaniert wurde. Manchmal wurden die originellsten oder schönsten Kleidungen prämiert. Oft wurden dabei bewusst Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Wurzeln nach vorne gebeten – von den Xhosa in Ostkap, zu den Tswana nördlich von Johannesburg, zu dem Shona aus Zimbabwe oder dem Flüchtling aus dem Kongo bis hin zum deutsch-stämmigen Pastor. Manchmal gab es nach dem Gottesdienst ein traditionelles Buffet mit Innereien, Magen, Maisbrei und Chakalaka – oder auch Curry. Manche haben sich bewusst mit der Kleidung einer anderen Kultur geschmückt – besonders beliebt waren da Sari, da es viele Südafrikaner*innen mit indischen Wurzeln gibt – insbesondere in Durban. Und bei einem solcher „Heritage Day Feiern“ wurde mir vom Kirchenvorstand, dessen Mitglieder kulturell mehrheitlich dem Volk der amaZulu angehört, Zulu-Speer und -Schild überreicht. Wow!


Was macht der weiße Pastor mit dem Kuhfell-Schild?

…und dann sitze ich ein paar Monate später in meinem Büro in Hermannsburg und lese einen Onlineartikel von einer Musikerin mit Dreadlocks, die bei einer „Fridays for Future“-Veranstaltung in Hannover wieder ausgeladen wurde, da der Musikerin kulturelle Aneignung vorgeworfen wurde. Dreadlocks seien in den USA ein Widerstandssymbol der Bürgerrechtsbewegung Schwarzer Menschen geworden. „Wenn eine weiße Person also Dreadlocks trägt, dann handelt es sich um kulturelle Aneignung, da wir als weiße Menschen uns aufgrund unserer Privilegien nicht mit der Geschichte oder dem kollektiven Trauma der Unterdrückung auseinandersetzen müssen“, heißt es in dem Artikel. Hmm. Was macht nun der weiße Pastor mit dem Schild der amaZulu? Das steht zwar weniger für ein Trauma als eher für den Stolz der Krieger der amaZulu, die bei der Schlacht von Isandlwana selbst die weltweite Kolonialmacht Großbritannien besiegten – aber vielleicht ist es trotzdem anmaßend, dieses Symbol in einem Büro in einem deutschen Dorf auszustellen? Früher wurde meinem ältesten Sohn auch ein traditioneller Lendenschurz mit Kopfschmuck geschenkt – von der (Zulu-)Jugend der Gemeinde. Und nun? Beschämt im Schrank verstecken?

Ich sage es gleich vorweg: Ich habe meinen Sohn ermutig, das Geschenk der Jugend zu würdigen, und die Kleidung zum angemessenen Anlasse gerne zu tragen. Das Schild, das mir meine letzte Gemeinde schenkte, steht auch in meinem Büro. Aber ist denn gar nichts dran an der Debatte? Ist denn nun kulturelle Aneignung gut oder schlecht? Wie die meisten wahren Antworten, gibt es auf diese Frage kein klares Ja oder Nein. Was kann uns auf dem Weg zu einer differenzierten Antwort helfen?

Was ist denn Kultur eigentlich?

Zuerst muss man sich darauf einigen, was denn „Kultur“ eigentlich ist. Häufig wird das Wort so benutzt, als gäbe es eine festgelegte Liste von Eigenschaften, die eine bestimmte Kultur klar beschreiben – Sprache, Kleidung, Essensarten, Rechtsverständnis, Musik, usw. Wenn wir uns selbst dann aber fragen: Zu welcher Kultur gehöre ich eigentlich? Dann merken wir: Wir haben Wurzeln in mehreren Kulturen. Und diese Anteile verändern sich auch über die verschiedenen Lebensphasen. So fest können die Zuschreibungen gar nicht sein. Das ist natürlich in Südafrika das Gleiche: Der in der südafrikanischen Township-Jugend besonders beliebte Kwaito–Musikstil hat Wurzeln in der „House music“ der 80er in den USA. In dem Wort Kwaito steckt das afrikaanse Wort „kwaai“, was umgangssprachlich „heiß“ bedeutet. Da sind schonmal drei völlig unterschiedliche Kulturen am Start! … und die Eltern der Kwaito-Hörer*innen sehnen sich bei diesem „Krach“ zu den beliebten vielstimmig gesungenen Chorälen zurück, deren Wurzeln in der methodistischen oder anglikanischen Kirche in Großbritannien oder im kirchlich-lutherischen Liedgut Deutschlands aus den vergangenen 500 Jahren liegen. Also auch dort: multikulti!


Kultureller Austausch oder kulturelle Aneignung?

Es ist wichtig festzustellen, dass kulturelle Aneignung häufig ein ganz natürlicher Prozess von lebendigen Kulturen ist – seit Menschengedenken! Das Christentum ist eine Geschichte kultureller Aneignung: von der jüdischen Religion über griechische Mythologien hin zu römischem Kaiserkult – alle haben Spuren im Christentum hinterlassen – und das geht auch heute noch weiter. Wenn Paulus in seiner Rede auf dem Areopag den Menschen von Athen predigt, dass der unbekannte Gott, dem auf einem Altar dort gehuldigt wurde, der Gott ist, den Paulus predigt – dann ist das eine kulturelle Aneignung erster Klasse.

Als Christ*innen ist unsere Kultur nie etwas „Heiliges“, aber auch nichts „Schlechtes“. Meine (vieldimensionale) Kultur ist die „Sprache“, in der ich auch meinen christlichen Glauben erlebe. Die gute Botschaft des Christentums wird also in jeder Kultur anders gepredigt – diesen Prozess nennen wir die Inkulturation des Evangeliums. Eine gute Predigt erleichtert es den Menschen, Gottes Ermutigung und Ermahnung in der eigenen Herzenssprache zu hören.

Andererseits ist Kultur eben auch genauso fehlbar wie jeder von uns Menschen. Es gibt kulturelle Praktiken, die sind lebensfeindlich. Sie kritisch zu beleuchten, ist die Aufgabe der Kulturkritik des Christentums. Welches Element meiner westlichen Konsum-Kultur ist eigentlich lebensfeindlich und muss unterbunden werden?


Nicht auf Kosten anderer

Wenn trotz all dieser Einwände immer noch das ungute Gefühl besteht, dass ich jetzt ein zentrales Element einer Kultur gebrauche, die nicht meine Kultur ist, dann ist für mich die grundlegende Frage: Was ist meine Haltung, mit der ich mich der Elemente einer anderen Kultur bediene? Bin ich von Respekt geprägt, oder mache ich mich lustig über diese andere Kultur? Mache ich einen ernsthaften Versuch zu verstehen, aus welchem Kontext kulturelle Elemente stammen, derer ich mich bedienen möchte? Verdiene ich mit den Elementen einer Kultur, in der ich keine eigenen Wurzeln habe, viel Geld und ignoriere dabei die Angehörigen dieser Kultur, lasse sie nicht teilhaben an dem Verdienst, den deren Kultur mir ermöglicht hat, oder lege ich meine „Quellen“ offen und teile?

Ein südafrikanischer Musiker, dessen Musik zu hören ich nur empfehlen kann, ist Johnny Clegg. Der inzwischen verstorbene Musiker wurde in Großbritannien geboren und ist danach in Sambia und Simbabwe und seit seiner Jugend in Südafrika aufgewachsen. Er hat sich von Mitgliedern des Volks der Zulu in Johannesburg – Gärtner*innen und Minenarbeiter*innen – die Zulu-Art, eine Gitarre und eine Harmonika zu spielen, und die Zulu-Tänze der Minenarbeiter*innen beibringen lassen. Da ging die kulturelle Aneignung hin und her (wo kommt eine Gitarre ursprünglich her?). In seinen Konzerten tanzte er Zulu-Tänze, er spielte die Gitarre im „Maskandi“ (afrikaans „musikant“) Stil und viele Liedtexte waren in isiZulu. Dabei nahm er sich bei seinen Konzerten auch immer wieder Zeit, einen Einblick in die verschiedenen Subkulturen der Zulu in den Wohnheimen der Minenarbeiter*innen und in der Herkunftsprovinz KwaZulu/Natal zu vermitteln. Er zeigte viel Respekt gegenüber diesen Elementen der sich auch stets verändernden Zulu-Kultur. Dabei unterstützte er aktiv mehrere Bildungs- und Gesundheits-NGOs, die die Marginalisierten der südafrikanischen Gesellschaft in diesen Bereichen unterstützen. Dies ist für mich ein Paradebeispiel gelungener und wertschätzender kultureller Aneignung.


Wertschätzend, gerecht, dankbar

Ja, es gibt kulturelle Aneignung. Unser Leben und unsere verschiedenen kulturellen Anteile sind ohne sie gar nicht denkbar.

Ja, es gibt kulturelle Aneignung, die als ausbeuterisch und erniedrigend abgelehnt wird, wenn der Kontakt zu dieser Kultur gar nicht besteht oder gesucht wird. Wenn kein Respekt herrscht, wenn mit den Angehörigen dieser Kultur das Einkommen nicht geteilt wird, das ohne diese Kultur gar nicht hätte verdient werden können – das ist ausbeuterische kulturelle Aneignung.

Ja, ich bin stolz auf das Geschenk meines Kirchenvorstands aus Durban/Südafrika – es steht für meinen 20 Jahre dauernden Weg mit Menschen aus der (fluiden!) Zulu-Kultur. Elemente dieser Kultur gehören auch zu meiner persönlichen Hybrid-Kultur, die aus mehreren anderen kulturellen Wurzeln in Südafrika, Deutschland und sogar Indien gespeist wird.

So sollte unsere Aufmerksamkeit bei der Frage nach kultureller Aneignung nicht eine der Angst und ständigen „Fehlverhalten-Suche“ sein. Nein, wir sollten die verschiedenen Kulturen feiern, die auch jeden von uns zu dem Menschen gemacht haben, der wir jetzt gerade sind. Ich ermutige jede*n, Elemente mir fremder Kulturen, die mich faszinieren, näher kennenzulernen und dann, wenn es sich so ergibt, davon auch einiges wertschätzend, respektvoll, dankbar und gerecht ins eigene Leben hineinzunehmen – aber eben nicht sich gedankenlos auf Kosten anderer bereichernd. Dadurch wird die eigene ohnehin im Laufe des Lebens immer multikultureller werdende Identität noch bunter. Viel Spaß dabei!

 

Referent Globale Kulturelle Vielfalt/
Ökumenische Zusammenarbeit Südafrika, Botsuana, Eswatini
Dr. Joachim Lüdemann
Telefon +49 (0)5052 69-292
j.luedemann(at)elm-mission(dot)net

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