"Zuerst muss ich zuhören"
Zum zweiten Mal hat das Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen (ELM) zu einem Menü der Begegnung eingeladen.
Das Format findet statt im Rahmen des Friedensort2GO des ELM, einem rund 4 Kilometer langen Pilgerweg durch Hermannsburg mit Stationen, die zum Nachdenken über das Thema Frieden einladen.
Wie und warum engagiere ich mich für Frieden, was bedeutet überhaupt Frieden und wieso ist es schon im engsten Umfeld oft so schwierig, Konflikte zu lösen? Darüber haben sich Bradn Buerkle und Claudia Dettmar-Müller bei einem Abendessen im Restaurant "Auszeit" in Beckedorf unterhalten. Zum Essen wurden ihnen auch Fragen serviert, die den beiden, die sich vorher noch nie begegnet sind, Anstoß zum Austausch gaben.
Claudia Dettmar-Müller ist seit 2019 Bürgermeisterin der Stadt Bergen, die sich vor dem Hintergrund der Geschichte des KZ Bergen-Belsen bereits vor etlichen Jahren den Beinamen „Stadt des Friedens und der Internationalität“ gegeben hat. Als Stadtoberhaupt, aber auch als Historikerin und Politologin sieht sich die parteilose Verwaltungschefin in der Verantwortung, dieses Label mit Leben zu füllen.
Bradn Buerkle ist in Montana/USA aufgewachsen und hat russische Kulturwissenschaften und Theologie studiert. Von 2000 bis 2022 lebte er in verschiedenen Städten Russlands und war dort als Seelsorger sowie in der theologischen Ausbildung tätig. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine erlebte er politische Einschränkungen seiner Arbeit und beschloss, mit seiner Familie nach Deutschland zu emigrieren. Im ELM arbeitet er als Referent für Russland sowie theologische Aus- und Fortbildung in Kirchen international.
Wie kam es dazu, dass du dich privat und beruflich mit dem Thema Frieden beschäftigst?
Bradn Buerkle: Ich bin auf einer Farm in den USA aufgewachsen. Wut und Aggressionen habe ich in meiner eigenen Familie erlebt, aber auch in der amerikanischen Gesellschaft gibt es viel Gewalt. Man hat ein Gewehr zuhause, eigentlich für die Jagd, aber notfalls auch, um sich und sein Land zu verteidigen. Ich war nie einverstanden mit dieser Art zu leben; auch nicht mit den Kriegen der Amerikaner und habe dagegen demonstriert.
Claudia Dettmar-Müller: Ich hatte eigentlich eine sehr harmonische Kindheit. Aber in den 1970er Jahren, hat mein Vater oft über Politik gesprochen und auch darüber, dass Russland vielleicht Europa angreifen würde. Davor hatte ich als Kind Angst. Ich habe darüber nachgedacht, warum es Kriege gibt und warum Menschen gewalttätig sein können. Und ich bin auf Demonstrationen für den Frieden gegangen. Mit 19 habe ich dann ein Jahr in einem Kibbuz in Israel mitgearbeitet. Ich wusste nichts über die Probleme von jüdischen und palästinensischen Menschen, als ich dorthin kam. Aber während dieses Jahres begann ich, mich damit zu beschäftigen.
Bradn Buerkle: Und, was hast du in Israel gelernt?
Claudia Dettmar-Müller: Einiges über ihre Konflikte. Damals hatte ich ein großes Herz für die Palästinenser. Danach habe ich begonnen, Nahost-Politik und Geschichte zu studieren. Und dabei hat sich mein Blickwinkel geändert. Ich habe realisiert, dass es oft einen großen Unterschied gibt, zwischen dem, was die Regierungen tun und dem, was die Menschen wollen. Und je mehr ich gelernt habe über die Geschichte der Juden, desto mehr sehe ich beide Seiten.
Bradn Buerkle: Ja, Bildung hilft, nicht fundamentalistisch zu werden, weil einem klar wird, dass es nicht möglich ist, ohne Widersprüche zu leben. Ich habe mich viel mit Tolstoi beschäftigt. Er war in seiner Literatur ein großer Befürworter von Gewaltlosigkeit, aber in seinem Familienleben spiegelte sich das nicht wieder. Oder nimm Mahatma Gandhi. In Südafrika kritisiert man, dass er sich für die indischstämmige Bevölkerung eingesetzt hat, nicht aber für die „Schwarzen“. Und auch die Kirchengeschichte ist keine Geschichte des Friedens. Für mich ist es wichtig, sich auf Jesus zu besinnen und auf den Frieden, von dem er gesprochen hat.
Zivilcourage ist mit Engagement für den Frieden eng verbunden. Hast du damit Ermutigendes erlebt in deinem Umfeld?
Claudia Dettmar-Müller: Zivilcourage ist sehr wichtig aus meiner Sicht. Aber wenn man über seine politischen Ansichten spricht, muss man sichergehen, dass die Menschen, zu denen man spricht, zuhören und verstehen, was man sagt. Ich habe gelernt, dass zuerst ich zuhören muss. Sonst werden die anderen mir auch nicht zuhören. Ich möchte zum Beispiel gerne die Arbeit der Gedenkstätte Bergen-Belsen noch mehr über die Stadtgrenzen hinaus weitertragen.
Ermutigend finde ich auch unsere jährliche Veranstaltung zum Weltfriedenstag in Bergen. Im September 2020 haben wir damit begonnen. Beim ersten Mal waren wir rund 20 Leute auf dem Friedensplatz, letztesmal war der Platz voll.
Bradn Buerkle: Für mich ist es interessant zu sehen, dass die Menschen in Deutschland wirklich das Gefühl haben, dass sie mit Zivilcourage und gesellschaftlichem Engagement etwas verändern können. In Russland ist das total anders. Dort haben die meisten Menschen resigniert.
Claudia Dettmar-Müller: Was denkst du über die Demonstration in Unterlüß gegen den AfD-Parteitag?
Bradn Buerkle: Ich sehe das mit gemischten Gefühlen. Das Missionswerk unterstützt die Demo und in Verbindung mit den christlichen Werten macht das für mich Sinn. Andererseits frage ich mich: Hilft es, die Spaltung in der Gesellschaft zu verringern und werden die Leute bereit sein, uns als Kirche zuzuhören, wenn wir sagen: „Wir sind gegen euch“?
Claudia Dettmar-Müller: Manchmal weckt es die Menschen eher auf, wenn man etwas Unerwartetes tut. Neulich sprach ich mit jemand, der mir sagte: Das Entwaffnendste ist, wenn man Menschen mit einem Lächeln gegenübertritt.
Bradn Buerkle: Jesus hat einen guten Weg gefunden, mit Menschen zu interagieren. Er begegnete ihnen nicht unbedingt mit einem Lächeln, aber auf einer anderen Ebene. Da ging es nicht darum, für oder gegen etwas zu sein. Er hat verstanden, dass wir alle klein und schwach sind und unterschiedlichste Ängste haben und dass die oft unser Handeln und auch unser Fehlverhalten antreiben.
Hast du schon einmal erlebt, dass du missverstanden oder angefeindet wurdest weil du dich für Frieden eingesetzt hast?
Claudia Dettmar-Müller: Ja. Frieden sollte eigentlich an der Basis beginnen. Aber das ist nicht so einfach. Bergen besteht aus 13 unterschiedlichen Ortschaften. Ich würde sagen, dass es mein Wunsch ist, die Menschen zusammen zu bringen. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Die Fronten sind ziemlich verhärtet.
Bradn Buerkle: Ich habe neulich mit einem deutschen Pastor gesprochen über die deutsche Gesellschaft. Er sagte, der Gedanke der Vergebung sei hier nicht sehr ausgeprägt.
Claudia Dettmar-Müller: Stimmt, wir gehen teilweise sehr hart miteinander um. Aber wäre es nicht eigentlich Aufgabe der Kirche, uns Vergebung zu lehren? Die Leute verlassen die Kirche und das in einer Zeit, in der man sie womöglich mehr denn je brauchen würde.
Bradn Buerkle: Die Kirche in Deutschland ist anders als in Amerika oder Russland. Auch für mich ist sie oft noch fremd. Ich habe das Gefühl, viele Menschen hier haben eher eine kulturelle Bindung an das Christentum als eine spirituelle.
Was motiviert dich, am Frieden zu arbeiten und die Vision von Frieden aufrecht zu erhalten?
Bradn Buerkle: Für mich persönlich spielt der Glaube dabei eine wichtige Rolle, da wir durch ihn auf ein gemeinsames Ziel hin verbunden sind. Jede Religion ist anders, aber Empathie gehört immer dazu.
Claudia Dettmar-Müller: Ich glaube, bei mir ist das einfach mein Charakter und die Hoffnung, etwas zum Guten zu ändern. Wenn wir hier so sitzen und reden, stimmen wir in fast allen Punkten überein, wie man zum Frieden gelangt. Aber bei meiner Arbeit merke ich, dass ich mich manchmal anders verhalte als ich eigentlich sein will. Dieses Gespräch heute Abend ist für mich wie eine Art Reset-Knopf um mich zu fragen: Wo stehe ich und was will ich? Ich glaube, solange man sich ab und zu reflektiert, ist man nicht verloren.
Bradn Buerkle: Ja, man muss die eigene Seele pflegen, das ist wichtig. Nur dann kann man auch offen sein für andere.