Aus Sibirien in die Südheide

Hermannsburg wird Zufluchtsort für amerikanischen Theologen und seine Familie

HERMANNSBURG. Seine Vorfahren stammen aus Deutschland und wanderten im 19. Jahrhundert ins Gebiet der heutigen Ukraine aus, Anfang des 20. Jahrhunderts siedelten sie in die USA über. Hier wurde Bradn Buerkle 1976 geboren. Seine Liebe zur Literatur von Tolstoi und Dostojewski brachte ihn im Jahr 2001 nach Russland, wo er bis vor Kurzem als Pastor tätig war, zuletzt im Auftrag des Ev.-luth. Missionswerk Niedersachsen (ELM) in Hermannsburg. Hier hat der 46-Jährige mit seiner Familie seit März Zuflucht gefunden. Ob die Südheide auch eine Heimat auf Dauer für ihn als amerikanischen Staatsbürger, seine russische Frau und seine Kinder mit doppelter Staatsbürgerschaft werden kann, wird die Zukunft zeigen. „Ich habe entschieden, dass wir schnell raus müssen“, erinnert sich Bradn Buerkle an die Tage Ende Februar. Die Familie lebte zu dem Zeitpunkt in Moskau. In den Jahren zuvor war der Theologe für verschiedene Gemeinden in Sibirien verantwortlich gewesen. Er selbst konnte nun sein Gehalt nicht mehr vom Konto abheben und täglich wurden mehr Flüge gecancelt und Grenzen geschlossen. Auch bei seiner Arbeit konnte der Geistliche keinen „Klartext“ mehr sprechen. „Es war die Passionszeit. Man bekennt sich zur Wahrheit. Ich hätte sagen wollen und sollen, dass wir diesen Krieg angefangen haben, und konnte das nicht“, erinnert sich der Amerikaner, der sich nach 22 Jahren in Russland auch mit seiner Wahlheimat identifizierte. Der Staat habe alle Bereiche kontrolliert, NGOs und die freie Presse stillgelegt. Als Pastor hätte er seine Arbeit absegnen lassen müssen. Und als Amerikaner war der Mitarbeiter des ELM sowieso im Visier des KGB. Immer wieder, meist nach Reisen ins Ausland, gab es „Gespräche“. „Sie wollten alles wissen, was ich mache“, erinnert sich der US-Amerikaner. „Wenn der Staat ein Ziel finden will, findet er eins“, ist Buerkle überzeugt und meint damit: Wenn man ihn hätte inhaftieren wollen, wäre das möglich gewesen. Bei den Menschen in seiner Umgebung beobachtete Bradn Buerkle mit dem Kriegsbeginn viel Hilflosigkeit. „Dass Putin einen großen Krieg anfängt, hat alle schockiert“, meint er. Wer Putin vor dem Krieg kritisch gegenüberstand, ging davon aus, dass er „nur die Muskeln spielen lässt“. Viele Menschen hätten ab dem 24. Februar resigniert, machten sich nun teilweise auch mit der Propaganda gemein. Nachdem der Sohn eines Kollegen zum Militär eingezogen wurde, habe der Vater angefangen, im Krieg einen Sinn zu sehen, erzählt Bradn Buerkle. Vielleicht seine einzige Möglichkeit, mit der Situation klarzukommen. Auch Familie Buerkle wollte durch ihrer Flucht nach Hermannsburg verhindern, dass ihr ältester Sohn in Russland zum Militär muss. Ein Direktflug nach Deutschland war allerdings schon kurz nach Kriegsbeginn nicht mehr möglich. So wählte die Familie zunächst Istanbul als Ziel. Hierhin können russische Staatsbürger ohne Visum reisen. Vier Wochen dauerte es dann noch, bis der Flug nach Deutschland möglich wurde. Den mussten Buerkles allerdings ohne ihre Schwiegermutter antreten, die sonst auch mitgekommen wäre. Die deutsche Botschaft in Istanbul wollte ihren Visumantrag nicht annehmen. Obwohl Bradn Bu- erkles Schwägerin ihren ständigen Wohnsitz in Deutschland hat, wurden ihre Einladung und seine Arbeitserlaubnis von den deutschen diplomatischen Diensten nicht als ausreichende Grundlage an- gesehen, um den Antrag der Schwiegermutter zu berücksichtigen. Stattdessen beharrten sie auf der Regel, dass solche Anträge nur in dem Land gestellt werden können, in dem man seinen Wohnsitz hat, also in Russland. Dies wiederum war aus Gründen, die mit den Covid-Beschränkungen zusam- menhingen, nicht möglich. So kehrte die Schwiegermutter in ihre Heimatstadt in Russland zurück. Von Hermannsburg aus bleibt die Familie mit ihr mittels Whatsapp in Kontakt. Auch mit Mit- gliedern seiner ehemaligen Gemeinden, die er in Nowosibirsk, Nowgorod, Tomsk, Irkutsk und Wladiwostock betreut hat und mit ev. Pastoren in Russland, ist Bradn Buerkle weiterhin in Kontakt. Gerade erst gab es ein Zoom-Meeting mit Teilnehmer*innen aus Russland und der Ukraine. „Es ist wichtig, dass sie ihre persönlichen Geschichten hören“, sagt der Theologe. „Zum Beispiel, dass Alexander nicht am Meeting teilnehmen kann, weil seine Stadt bombardiert wird.“ Es sei verständlich, dass Ukrainer einen Hass auf Russland hätten. Umso wichtiger sei es, dass sie mit Russen sprächen, die auch in schwierigen Situationen seien. Das miteinander sprechen hält Bradn Buerkle auch für die einzige Möglichkeit, dem Krieg zu begegnen. „Es gibt viele, die eine militärische Lösung proklamieren. Die Kirche sollte was anderes anbieten. Hört auf zu kämpfen. Fangt an, miteinander zu reden“, lautet sein Aufruf.

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