Wo kommt deine Familie eigentlich her?
Eine Reflektion von ELM-Referent Dr. Joe Lüdemann über eine von ihm gestaltete Unterrichtseinheit an der Oberschule Hermannsburg.
25 Schülerinnen und Schüler der Oberschule Hermannsburg gucken mich fragend an. Von ihrem Äußeren her könnte man meinen, dass mindestens 20 von ihnen alteingesessene Hermannsburger sind. Aber das ist es ja gerade – von dem Äußeren eines Menschen auf seine Migrationsgeschichte zu schließen sagt mehr über die Vorurteile des Betrachters aus als über die betrachtete Person. In dieser Schulstunde verfolge ich die spannende Frage nach dem Migrationshintergrund erstmal nur anhand meiner eigenen Biografie, die sehr stark von Migration aus unterschiedlichen Gründen geprägt ist:
Mein Opa väterlicherseits verließ aus wirtschaftlichen Gründen in den 1920er Jahren Deutschland. Als jüngster Sohn einer großen Familie gab es kein Erbe und in Deutschland zu der Zeit kaum Arbeit. Also verdiente er in Argentinien als Gaucho (Cowboy) und in den USA als Hausmeister auf einem Fabrikgelände sein Geld. Mein Großvater mütterlicherseits war deutschstämmiger Südafrikaner, der aus Bildungsgründen nach Deutschland zog – ins Missionseminar in Hermannsburg. Seine Verlobte, eine Pastorentochter aus Schaumburg-Lippe, emigrierte in den 1930er Jahren hin zu einer entlegenen Missionsstation im Zululand in Südafrika – Migrationsgrund: die Liebe – Heirat. So ist Migration als Lebensrealität in meiner (Groß)Familie bis zum heutigen Tag ständig präsent mit Cousins und Cousinen in Australien, Schweiz, Neuseeland, Südafrika, Deutschland …
Mit dem Kurzfilm "Never stop knocking …" leite ich zum Engagement des ELM für Migrant*innen und Geflüchtete in Südafrika über. Die Migrationsgeschichte der Pastorin Rosalie Madika vom Kongo nach Südafrika fasziniert die Schüler*innen – auch dass sie sich in dem von ELM und Landeskirche Hannovers geförderten Projekt „Refugee and Migrant Mission“ (RMM) für die sehr marginalisierte Gruppe der französisch-sprechenden Geflüchteten und Migrant*innen einsetzt. Vor Bürgerkriegen in der Demokratischen Republik Kongo, dem damaligen Genozid in Ruanda und auch von Burundi flohen diese Menschen über gefährliche Wege bis hin nach Südafrika – nur um sich dort zahlreichen neuen Gefahren ausgesetzt zu sehen: Ausländerfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit, erschwerten Zugang zu Schulen und Hospitälern…
Pastorin Madika kennt all dies genau aus eigener Erfahrung. In Zusammenarbeit mit der „Lutheran Community Outreach Foundation“ (LCOF), einer NGO die auch vom ELM unterstützt wird, kann sie Rechtsbeistand vermitteln für den langwierigen Weg zur Klärung des Aufenthaltsstatus. Sie vermittelt Englischkurse und Kurzfortbildung, die Fähigkeiten zur eigenen Versorgung vermitteln: Vier-Wochen-Kurse zum Schweißen oder zur Schreinerei – zum Frisieren oder Schminken (Beautician) helfen dabei ein kleines Einkommen zu erzielen. Rosalie spricht mit Schulleiter*innen, damit sie die Kinder der Migrant*innen und Geflüchteten aufnehmen und mit Krankenhausmitarbeitenden, dass sie PatientInnen aus dieser Gruppe nicht abweisen. „Never stop knocking… Ich höre nie auf, Anzuklopfen!“ …sowohl bei den Geflüchteten und Migrant*innen, die auf Grund schlimmer Erfahrungen Angst haben, sich irgendwem anzuvertrauen, als auch bei den staatlichen Einrichtungen, die häufig erstmal abweisend gegenüber dieser Gruppe von Menschen sind.
Zum Schluss wird es praktisch. Anhand von ein paar Schlagworten zu sechs „typischen“ Kurzbiografien von Geflüchteten und Migrant*innen, die sich in Südafrika aufhalten, haben die Schüler*innen die Aufgabe, die Herausforderungen zu beschreiben, denen diese Menschen sich ausgeliefert sehen. Lösungsansätze müssen priorisiert werden. Wo muss sofort gehandelt werden, was ist eher langfristig zu klären? Und dann: Versucht Euch mal in die Geflüchteten hineinzuversetzen, …und auch in die südafrikanischen Nachbarn. Was empfinden sie? Wie äußern sie sich? Wozu schweigen sie eher? Diese Aufgabe bearbeiten die Schülerinnen und Schüler in Gruppen – auch noch in der nächsten Stunde, bei der ich dann nicht mehr dabei bin.
Die Stunde mit den Oberschülern hat mich nachdenklich gestimmt. Wer prägt ihre Gedanken zum Thema Migration? Gerade im Wahlkampf vor der Europawahl wird diese Thematik häufig nur schrill, simplifiziert, mit schwarz-weiß-Malerei und als Thema über „die anderen da“ behandelt. Als ELM engagieren wir uns für und mit Geflüchteten und Migrant*innen aus einem noch tieferen Grundsatz, der Menschen verbindet: Als Kinder Gottes werden Migrant*innen und Geflüchtete meine Geschwister. …und durch unsere Partnerkirchen sind auch die Südafrikaner*innen unsere Geschwister – die Menschen, die teils auch klagen: „Wir haben bereits 35% Arbeitslosigkeit! Da soll sich der Staat erstmal um uns kümmern und nicht noch andere ins Land lassen!“
Wie ich beiden Gruppierungen begegne, sagt etwas über mein Gottes- und daher auch Menschenbild aus. Auch meine Ratlosigkeit ist eine für viele nachvollziehbare Reaktion, angesichts der kaum lösbaren Probleme in diesem Themenbereich. Der Film zu Pastorin Madika, die Kurzbiografien von Migrantinnen in Südafrika, aber auch die von Migration so geprägte Geschichte meiner Großfamilie – die Schülerinnen und Schüler dockten auf der Gefühls-, Biografie- und gesellschaftlichen Ebene an die Thematik an und konnten ein paar Schritte hin tun zu einem differenzierten Umgang aber auch zu praktischen Lösungsentwürfen zum Thema Migration und Flucht.