Sich auf Augenhöhe und im Vertrauen auf Gott begegnen – eine Reflexion über die Seelsorgepraxis in einer diversen Gesellschaft
Ein Gespräch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von psychosozialer Beratung und Seelsorge mit Prof. Dr. Katharina Kleine Vennekate.
Frau Prof. Dr. Kleine Vennekate, Sie sind Pastorin und Sozialpädagogin, haben in der Seelsorge und als psychosoziale Beraterin gearbeitet. Gibt es da einen gemeinsamen Nenner?
Seelsorge und psychosoziale Beratung basieren auf den Grundsätzen der personenzentrierten Gesprächsführung von Carl Rogers mit den drei wichtigen Grundhaltungen des Beraters oder der Beraterin, nämlich Empathie, Authentizität und bedingungslose Wertschätzung. Diese Grundhaltungen werden durch die Gesprächstechnik des aktiven Zuhörens umgesetzt. Außerdem braucht man in allen Beratungsformen das Wissen und die Fähigkeit, mit Körpersprache zu verstehen und mit ihr umzugehen.
Wer war Carl Rogers?
Er war Psychologe und Psychotherapeut, hatte aber auch Theologie studiert. In den 1940er Jahren entwickelte Carl Rogers sein Konzept der personenzentrierten Gesprächsführung, das sich dann bald auch in Europa verbreitete und daraufhin auch seinen Einzug in die Seelsorgekonzepte und -praxis der Kirchen fand.
Welche verschiedenen Beratungsformen gibt es denn?
Das Spektrum der Beratungsformen ist weit gestreut. Die wohl bekannteste Form der Beratung ist das individuelle Gespräch zu persönlichen Lebensproblemen, die man als psychosoziale Beratung bezeichnet, weil sie die psychischen Probleme im sozialen Kontext der Menschen wahrnimmt. Auch die Psychoanalyse hat diese Beratungsform beeinflusst. Die klassische Seelsorge ist im Bereich dieser Beratungsform zu verorten.
Menschen werden aber auch sehr stark von Systemen, in denen sie leben, beeinflusst. Deshalb wurde eine systemische Therapie wie z.B. die Familientherapie entwickelt.
Gerade der systemische Ansatz in der Therapie hat die Türen für Beratungsformen in Institutionen aufgestoßen wie z.B. als Schulsozialarbeit, Schulpsychologie, Krankenhausseelsorge oder Gefängnisseelsorge. Die systemisch arbeitenden Beratungsformen werden in der Arbeitswelt angewendet z.B. als Coaching, Supervision und Konfliktmoderation.
Inwiefern hebt sich die Seelsorge von all diesen Beratungsfeldern ab?
Die Seelsorge legt einen Schwerpunkt auf die spirituelle Dimension des menschlichen Lebens. Seelsorge bringt dafür besondere Kompetenzen mit, um gemeinsam mit den Ratsuchenden die Fragen nach dem Sinn zu reflektieren. Das christliche Seelsorgeverständnis gibt Auskunft darüber von welchem Menschenbild und Grundvoraussetzungen das Seelsorgegespräch getragen ist.
Die Grundlage der Seelsorge liegt in Gottes unverfügbaren Heilshandeln und seiner Liebe zu den Menschen. Das Adjektiv „christlich“ verweist auf dieses Heilshandeln und darauf, dass der oder die Seelsorgende sich in ihrem/ seinem Handeln darauf bezieht. Und es gibt Auskunft über das Ziel der Seelsorge: die Würde des Menschen als von Gott geliebter und bejahter Mensch zu fördern und zu schützen.
Wie würde ein solches Angebot christlicher Seelsorge für Sie dann konkret aussehen?
Ich möchte diese Frage anhand der Geschichte vom blinden Bartimäus in Markus 10 beantworten. Jesus handelt in dieser Geschichte in dreifacher Hinsicht als Seelsorger:
1. Ziemlich am Ende der Geschichte fragt Jesus Bartimäus: Was willst du, was ich für dich tun soll? Mit dieser Frage macht Jesus deutlich, dass er Bartimäus die Entscheidung über sein Leben überlässt. Jesus will es selbst von Bartimäus hören, wie sein Leben verändert werden soll. Nicht Jesus entscheidet, was zu tun ist, sondern der Betroffene selbst. Genau das muss die Grundhaltung in der Seelsorge sein.
2. Jesus sieht Bartimäus und hört ihm zu. Das steht im Gegensatz zu dem Verhalten der anderen Menschen, die auf der Straße auf Jesus warten. Sie hören zwar wie Bartimäus ruft aber sie weisen Bartimäus zurecht. Er soll nicht stören. Deshalb weisen sie ihn ab. Aber Jesus sieht und hört ihn. Dann nimmt Jesus die anderen Menschen in die Verpflichtung: „Holt ihn zu mir“. Damit verändert Jesus nicht nur das Leben von Bartimäus, sondern fordert zugleich die Gemeinschaft eine andere Perspektive auf den Hilfe suchenden Menschen einzunehmen. Christlichen Seelsorge ist nicht nur individuelle Hilfe, sondern betrifft und verändert die Gemeinschaft. Deswegen ist sie auch in die Gemeinde eingebettet.
3. Der dritte Aspekt in der Geschichte ist Empowerment. In dem Moment, als Jesus Bartimäus ansieht und zu ihm spricht, passiert etwas mit ihm. Er wirft seinen Mantel ab. Dieser Mantel ist Ausdruck für den Schutz, den ein Mensch braucht, der in einer vulnerablen Situation ist. Christliche Seelsorge sollte Menschen den Impuls geben, selbst aktiv zu werden und ihre Schutzmechanismen, die auch etwas Belastendes haben und einengen, abzuwerfen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen.
Vom Ansatz her ist es also erst mal egal, wer vor Ihnen sitzt, ob nun ein Christ*in, ein Muslim*in, Hindu oder wer auch immer?
Da die Grundvoraussetzung der christlichen Seelsorge Gottes bedingungslose Liebe zu den Menschen ist und Jesus seine Hilfe allen Menschen zukommen lassen hat, ist die Grundlage für eine interreligiöse bzw. interkulturelle Seelsorge im Handeln Jesu selbst begründet. Sie findet überall dort Anwendung, wo Menschen mit unterschiedlichen weltanschaulichen Überzeugungen sich begegnen, sich in Krisensituation befinden und deswegen auch nach der spirituellen Dimension ihres Lebens suchen. Die religiöse, weltanschauliche und kulturelle Vielfalt empfinde ich als Bereicherung. Zugleich hat eine interreligiöse Seelsorge ihre besonderen Herausforderungen. Sie konfrontiert uns mit den eigenen Empfindungen, Ängsten und Umgangsweisen, die wir haben, wenn wir jemanden oder etwas begegnen, was uns fremd ist. Sich im Fremdsein begegnen, die Mehrdeutigkeit und Unterschiedlichkeit akzeptieren und wertschätzen und einen gemeinsamen Gesprächsraum eröffnen sind Herausforderungen der interreligiösen und interkulturellen Seelsorge. Dazu habe ich im Juni 2025 auf der letzten Fachtagung an der Fachhochschule für Interkultureller Theologie einen Vortrag gehalten. Diese Fachtagung zum Thema Interkulturelle Theologie wurde von den aktiven und ehemaligen Professoren und Professorinnen durchgeführt und reflektiert das theologische Erbe der FIT. Mein Beitrag mit dem Titel „Encountering each other as strangers – Intercultural pastoral care in the context of flight and migration“ und die meiner Kollegen und Kolleginnen wird demnächst in einem Sammelband beim Peter Lang Verlag erscheinen.
Wo in der Bibel gibt es noch Stellen, die Sie als relevant für die Seelsorge ansehen?
Eine meiner Lieblingsgeschichten ist die vom Kampf am Jabbok (Genesis 32,23-33). Sie erzählt, was es bedeutet, wenn eine Schuld einen Menschen beeinträchtigt. Das ist bei den Brüdern Jakob und Esau der Fall. Jakob weiß das, und er ringt mit seiner Schuld und der Vergangenheit in der Nacht, bevor er seinem Bruder begegnet. Und dann wird er an der Hüfte verletzt. Das ist für mich der Ausdruck dafür, dass Versöhnung nur dann möglich ist, wenn die eigene Vulnerabilität verspürt wird und man in diesem Bewusstsein aufeinander zugehen kann.
Ich habe diese biblische Geschichte schon bei Menschen in der Beratung verwendet, die einen Zugang zur Bibel hatten und wo es um die Frage ging, wie Versöhnung möglich ist.
Glauben Sie, dass man durch die Einbeziehung der Bibel Menschen besser unterstützen kann als mit einem säkularen Ansatz?
In der Bibel stecken Dinge, die vielleicht für die Beratungsarbeit noch nicht so erkannt wurden. Aber wer will das letztlich beurteilen? Für Menschen, die eine spirituelle Dimension suchen, ist die biblische Botschaft ein „Mehr“, da die transzendente Perspektive auf ihr Leben hilfreich ist. Und auch für mich als Beraterin kann ich sagen, gibt es einen Mehrwert, weil ich das, was ich höre und erlebe – und ich habe wirklich schwierige Fälle beraten - im Gebet ein Stück weit „abgeben“ kann. Im Gebet wird mir bewusst, dass vieles nicht in meiner Macht steht und ich kann das Schwere Gott anvertrauen.
Zudem gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die einen Benefit durch „Spiritual Care“ benennen. Der Mensch trägt eine spirituelle Dimension in sich. Menschen erleben diese spirituelle Dimension als Suche nach dem Sinn des Lebens, nach Orientierung und nach einer positiven Antwort wie z.B. die Aussage: „Du bist geliebt, du bist gewollt, du hast einen Auftrag hier“. Diese christliche Antwort ist eine Antwort unter vielen und kann für die Menschen eine große Hilfe sein.
Können Sie das noch ein bisschen konkreter machen aus Ihrem Erfahrungsschatz? Was passiert mit Menschen oder kann passieren in einem Seelsorgeprozess?
Beratung wirkt auf verschiedenen Ebenen. Wenn jemand in die Beratung kommt, weil er mit dem Problem nicht allein zurechtkommt, dann wird das Problem zum einen auf der Sachebene besprochen. Das erweitert schon mal die eigene Sichtweise und den eigenen Verständnishorizont. Auch auf der emotionalen Ebene wird der Stress rausgenommen, weil sich durch das Gespräch die Bewertung der ganzen Situation verändert. Dadurch ergeben sich insgesamt mehr Lösungsmöglichkeiten, weil die Person mehr Handlungsoptionen erkennt. Ich finde es immer wieder interessant, dass bei der Problembearbeitung viel von der inneren Einstellung eines Menschen abhängt, ob er oder sie in der Lage ist, sein/ihr Problem mit anderen Augen zu sehen, andere Lösungen anzustreben und sich dann die Schritte zur Problemlösung zuzutrauen. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Emotionen eines Menschen.
Oft hilft es schon, wenn die Person ihr Problem unter anderen Vorzeichen wahrnimmt und sich nicht mehr als hilflos erlebt. Sie sieht zum Beispiel, welche kleinen Schritte sie selbst machen kann. Die Selbstwirksamkeit erfahrbar zu machen, ist ganz wichtig. Damit fördert man die positiven Ressourcen, die ein Mensch zur Lösung von Problemen bereits in sich trägt.
Gibt es auch manchmal den Fall, dass Sie das Gefühl haben, es stockt. Sie kommen bei dem Menschen nicht weiter, für die Sie jetzt als Seelsorgerin da sind?
Solche Fälle gibt es durchaus. Ich bin keine Psychiaterin, ich bin auch keine Psychotherapeutin. In solchen Fällen muss ich die Personen an die richtigen Stellen verweisen. Zweimal bin ich selbst mit Menschen in die Psychiatrie gefahren, weil ich gesagt habe, das ist jetzt hier eine Sache, die zu kritisch ist. Das kann ich nicht mehr verantworten. Wichtig ist dann zu wissen, welche Hilfen dieser Mensch jetzt braucht.
Ich würde hier gern nochmal auf den Bereich der interkulturellen Seelsorge zurückkommen, den Sie angesprochen hatten. Das ist einer Ihrer Schwerpunkte. Nehmen wir an, Sie beraten einen Muslim oder eine Muslimin. Sie verwenden genau diese Methoden, die Sie beschrieben haben. Aktives Zuhören, Empathie, Sie bringen Ihren Glaubenshintergrund eher passiv ein. Erleben Sie da nicht auch manchmal Denkweisen, die Sie nicht nachvollziehen können? Oder kann das genauso passieren, wenn Sie mit Personen Ihres Kulturkreises und Glaubens sprechen, weil Menschen einfach so verschieden sind?
Das ist völlig richtig. Die Erfahrung, dass man Menschen nicht verstehen kann, hängt nicht in erster Linie von der Religion oder einer anderen Kultur ab. Auch Menschen aus dem eigenen Kulturkreis können unverständlich wirken. Dennoch ist festzustellen, dass das Fremdsein oder Unverständnis bei Menschen aus anderen Kulturen tendenziell häufiger vorkommt. Ich blicke aber eher auf die Gemeinsamkeiten als auf die Unterschiede. Denn ich habe mit Menschen anderen Glaubens eine ganz große Gemeinsamkeit, nämlich, dass wir an einen Gott glauben, an eine übermenschliche Macht und dass uns dieser Glaube auch in Krisensituationen hilft. Wir praktizieren Gebete und Rituale, wenn auch mit verschiedenen Inhalten und in unterschiedlicher Form.
In meiner Beratungspraxis habe ich bei meiner Vorstellung gesagt, dass ich Pastorin und Sozialpädagogin bin. Bisher habe ich habe in keiner Beratung erlebt, dass jemand gesagt hat, dass es ihn oder sie stört, dass ich eine Vertreterin eines anderen Glaubens bin. Ich habe sehr viele Frauen aus dem muslimischen Kontext beraten und die Rückmeldung erhalten, dass es für die Frauen wichtig war, dass eine Frau sie beraten hat und ich als Beraterin Erfahrungen auch mit Glaubensfragen habe.
Ich erinnere mich zum Beispiel an eine junge Frau, die den Wunsch hatte, dass sie sich von ihrem Mann trennen möchte. Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs ging es darum, wie eine Scheidung im muslimischen Kontext vollzogen wird. Die Familie forderte, dass ein Onkel ein Gespräch über die Ehe führen solle und so zum Erhalt der Ehe beitragen soll. Daraufhin habe ich die Klientin darüber aufgeklärt, wie in Deutschland der Prozess der Scheidung verläuft und es im Falle einer Scheidung häufig sehr hilfreich ist, eine Beratung einer unbeteiligten Person in Anspruch zu nehmen. So können die Personen für sich besser herausfinden, was der richtige Weg ist. Für die junge Frau war die Entscheidung für die Scheidung ein schwerer Schritt, denn sie wusste, dass in dem Moment, wo sie sich von ihrem Mann scheiden lässt und nicht zu ihrer Herkunftsfamilie zurückgeht, wird sie von ihrer Familie erst einmal isoliert sein. Trotzdem hat sie sich für diesen Weg entschieden.
Oft habe ich mit muslimischen Klienten und Klientinnen darüber reflektiert, inwiefern das von der Familie oder Gemeinschaft geforderte Verhalten wirklich auf der Botschaft des Korans fußt oder ob es nicht eher eine Frage der kulturellen Traditionen ist. Sagt der Koran etwas zu dem Problem der Person und was sagt die innere Stimme des eigenen Glaubens zu dem Problem? Manchmal haben wir dann auch zusammen gebetet. Dazu hat jede und jeder ihre/ seine Form des Gebets genutzt. In diesen Momenten haben wir eher das Gemeinsame gespürt, sind uns trotz aller Unterschiede in den Glaubensformen doch nahegekommen, weil wir der göttlichen Wirkkraft in unserem Leben vertrauen konnten. Solche Momente des gemeinsamen Teilens sind für mich Begegnung auf Augenhöhe.
Frau Kleine Vennekate, vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. Katharina Kleine Vennekate ist Theologin und Sozialpädagogin, Traumafachberaterin und Coach. Sie hat als Seelsorgerin und als psychosoziale Beraterin unter anderem mit Studierenden und Geflüchteten gearbeitet. An der Fachhochschule für Interkulturelle Theologie Hermannsburg lehrte sie Praktische Theologie mit einem Fokus in Diakonie in interkultureller Perspektive.