Blick in den Osten

Trotz besten Freibadwetters fanden sich am Samstag, dem 11.06.2022 um 17.00 Uhr an die 40 interessierte Zuhörer*innen in der Peter-Paul-Kirche in Hermannsburg ein, um „mehr zu begreifen von dem Unbegreiflichen“ - so drückte es Waldemar Rausch, Referent Ökumenische Zusammenarbeit Russische Föderation im ELM, in seiner wertschätzenden Anmoderation für Dietrich Brauer aus. Brauer war bis vor kurzem Erzbischof der ELKR und damit zuständig für die Evangelische Kirche, die territorial ungefähr die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion umfasste. Heute ist Brauer noch der Bischof der ELKER. Das ist die Evangelisch-lutherischen Kirche Europäisches Russland, die ihren Hauptsitz in der St.-Peter-und-Paul-Kirche in Moskau hat.

Mit der Wahl eines neuen Erzbischofs war klar, dass Brauer, der seit Februar 2022 mit seiner Familie in Deutschland lebt, nicht mehr Oberhaupt der ELKR ist. Und die Enttäuschung ist ihm anzumerken, dass die Kirchen in Russland sich nicht stärker gegen einen Krieg positioniert haben, dessen Bilder, so Brauer, immer stärker zur Gewohnheit würden. Manchmal frage er sich, ob man hier den Krieg überhaupt noch als real wahrnehme? Als einen Krieg, in dem geschossen und gestorben werde. Gleichwohl widerspricht Brauer Meinungen, die besagen, man hätte diesen Krieg nach dem Überfall auf die Krim 2013 ahnen können: „Man konnte es nicht prophezeien. Alle haben gedacht es bliebe eine geopolitische Spielerei. Keiner hat ernsthaft an einen Krieg gedacht in dem Menschen real sterben.“

Mittlerweile schweigen viele Menschen in Russland - auch weil sie Angst haben. Seit dem 24. Februar 2022 durfte in der Kirche nicht mehr von Krieg gesprochen werden. Brauer attestiert der Mehrheit der Menschen in Russland das „Stockholm-Syndrom“: die Identifikation mit einem Aggressor, der Menschen in Geiselhaft nimmt.

Der Bischof der ELKER thematisiert deutlich, dass alle Menschen in Russland Repressionen ausgesetzt sind, gegen die sie sich höchstens durch das Bilden von Netzwerken schützen können. Und dass er niemandem erzählen möchte, wie er oder sie sich in der gegenwärtigen Situation zu verhalten habe. „Tyrannenmord ist lächerlich“, sagt Brauer, der die Übersetzung der Werke Bonhoeffers ins Russische in seiner Zeit als Erzbischof unterstützt hat „und nicht jeder ist in der Situation von Bonhoeffer“. Trotzdem ist er entschieden der Meinung, dass es nicht der Weg einer christlichen Kirche sein könne „für den Sieg zu beten“. Sondern dass es darum gehe, die Demokratie zu verteidigen. Er sei erstaunt, wenn er hier Demonstrierende sehe, die sich in einer Diktatur wähnten: „Unabhängige Medien, eine funktionierende Zivilgesellschaft, auch über unangenehme Dinge reden, alternative Meinungen zulassen und das zu schätzen, was man hat“ sei kennzeichnend für eine Demokratie und man solle alles dafür tun, diese Schätze zu hüten. Was passiere, wenn zu lange geschwiegen wird, sehe man derzeit in Russland. In Diktaturen riskiere man sein Leben, wenn man öffentlich die Wahrheit sagt und Verbrechen und Opfer nicht mehr benennen darf. Brauer hofft darauf, dass die Kirchen in Russland, die derzeit dafür plädieren, Kirchen sollten frei sein von Politik und mittlerweile alle die Linie Putins offiziell unterstützen, ihr Vertrauen in die Glaubensbrüder und -schwestern in der Ukraine setzen und deren Zeugnis Glauben schenken.