
Alles könnte anders sein ...
"Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben." (Joh. 10,10)
Leben in Fülle habe ich vor allem dann, wenn ich eine Wahl habe. Dies ist weltweit für die meisten Menschen nicht gegeben. Damit ist das Wohlbefinden benachteiligter oder diskriminierter Menschen eines der entscheidenden Kriterien für unsere Arbeit. In der gegenwärtigen Welt stellen wir fest, dass ein Leben in Fülle/Würde einem großen Teil der Menschheit aufgrund vielfältiger
kultureller, ökonomischer, religiöser, ökologischer und sozialer Faktoren verwehrt ist.
Gott, verändere das Angesicht der Erde – und fange bei uns an
Fragen von Unterentwicklung und Entwicklung sind u.a. begründet in der Philosophie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die das Bild der Überlegenheit der Weißen mit geformt hat. Weißsein ist in der Regel den deutschen Mehrheitsangehörigen – wie auch den "politisch Weißen" des globalen Nordens – nicht bewusst, aber dennoch wirksam. Wir sind herausgefordert, unsere eigene Haltung kritisch in Frage zu stellen und uns zu verändern. Es gilt, unser Bild von uns als "die Engagierten" im Blick auf unsere Weltverantwortung zu dekonstruieren und die Begriffe Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung neu zu füllen. Dies ist auch hinsichtlich der Begriffe Entwicklung/Unterentwicklung und den damit zusammenhängenden weltweit etablierten Formen der „Entwicklungszusammenarbeit“ zu bedenken.
Agenda 2030 – eine Chance oder ein fauler Kompromiss?
Definitiv eine Chance. Politik ist immer auf (manchmal kleinste) gemeinsame Nenner angewiesen. Die Agenda 2030 formuliert gemeinsame Ziele, die von Großteilen der Weltgemeinschaft getragen werden: Endlich wird auch in offizielle Strategien mit aufgenommen, dass der globale Norden Verantwortung für die hier formulierte Vision übernehmen muss. Aus der Präambel: "Diese Agenda ist ein Aktionsplan für die Menschen, den Planeten und den Wohlstand. Sie will außerdem zu Frieden und Freiheit beitragen. Wir sind uns dessen bewusst, dass die Beseitigung der Armut in allen ihren Formen und Dimensionen die größte globale Herausforderung und eine unabdingbare Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung ist." Damit ist eine Erkenntnis als politischer Wille formuliert: Die globalen Herausforderungen unserer Zeit lassen sich nur gemeinsam bewältigen. Hierfür muss das Leitprinzip der nachhaltigen Entwicklung konsequent angewendet werden.
Rolle von Religion und Entwicklung
Während die Milleniums-Entwicklungsziele (2000 - 2015) noch stärker auf staatliche Programme setzen, sind während der Entwicklung der Agenda 2030 u.a. auch die Zivilgesellschaft und Religion deutlicher ins Bewusstsein gerückt. Die Erkenntnis, dass z.B. die Rolle von Religion für Entwicklung bislang viel zu sehr unterbewertet wurde, fand durch Studien und Beschlüsse der Vereinten Nationen Eingang in die jeweiligen staatlichen Programme, sodass man nach der 2015 erschienenen Veröffentlichung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Rolle von Religion in der deutschen Entwicklungspolitik) heute von einer deutlichen Anerkennung dieses Arbeitsfeldes im Bereich der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit sprechen kann. Denn eine Entwicklungspolitik, die den einzelnen Menschen in den Blick nimmt, muss dessen Kultur, Religion und Weltanschauung ernst nehmen.
Wusstest du schon?
Bei allen, auch kritisch zu nennenden Faktoren von Religion (z.B. Frauenbild) und religiös motivierten Konflikten ist eben auch zu konstatieren, dass nach Schätzungen der Weltbank beispielsweise in Afrika südlich der Sahara rund die Hälfte aller Leistungen in den Bereichen Bildung und Gesundheit von religiös motivierten Organisationen erbracht wird. Ebenso ist im Themenkomplex Migration zu vermerken, dass die sogenannten "remittances", also die Zahlungen, die Migrant*innen u.a. an Familienmitglieder in ihren Herkunftsländern überweisen, die offiziellen Entwicklungsgelder (ODA – Official Development Aid) weltweit um ein Vielfaches übersteigen.
Der Beitrag von Kirchen, Gemeinden sowie kirchlichen Werken
Neben diesen globalen politischen Kontexten kommt im Rahmen der Agenda 2030 damit auch den verschiedenen christlichen Kirchen, kirchlichen Einrichtungen und Gemeinden eine neue Bedeutung zu. Die Evangelische Kirche in Deutschland fordert in ihrer Broschüre "Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben. Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen", dass sich Kirchen weltweit als Mahner, Mittler und Motor den globalen Herausforderungen stellen. Die christliche Botschaft bietet die Möglichkeit, sich in öffentliche Debatten einzuschalten. So kann z.B. auch das Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen (ELM) mit Partnerkirchen nachhaltige Entwicklung exemplarisch erproben. Durch die weltweite Vernetzung kann zudem Advocacy-Arbeit konkret werden. Genauso wichtig ist es aber auch, auf lokaler Ebene, z.B. im Rahmen einer christlichen Süd-Nord-Partnerschaftsgruppe oder Gemeinde, zu überlegen, wie man an Haltungen gegenüber "Fremden" arbeiten oder eine diakonische Einrichtung ihren Einkauf öko-fair gestalten kann.
Dr. Mirjam Laaser
